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Lärm ist nicht nur lästig. Wenn man ihm permanent ausgesetzt ist, führt er zu ernsthaften Gesundheitsschäden. Das Startup recalm hat eine Technologie entwickelt, welche die Lärmreduzierung in Fahrerkabinen von Bau- und Landmaschinen ermöglicht und zudem die Kommunikation per Funk erleichtert. Dafür gab es in diesem Jahr eine Finanzierung in Millionenhöhe.

© recalm: das wichtigste Produkt, ANCOR Headrest

Mit Lärm auf dem Fischmarkt fing es an

Der Fischmarkt in Altona ist einer der beliebtesten Treffpunkte in Hamburg. Vor allem am Sonntagmorgen ist dort ordentlich Betrieb, aber auch sonst geht es dort meist turbulent und laut zu. Als Marc von Elling an einem heißen Sommerabend im Jahr 2016 das Fenster seines Schlafzimmers offenließ, war an eine ungestörte Nachtruhe nicht zu denken, denn seine Wohnung lag in unmittelbarer Nähe des Fischmarkts. Den Lärm ausblenden, ohne Kopfhörer oder Ohrstöpsel – dafür müsste es eine Lösung geben, dachte er sich.

Die gibt es tatsächlich und nennt sich Antischall. Weitere gängige Begriffe sind Active Noise Reduction (ANR) und Active Noise Cancellation (ANC). Gemeint ist in jedem Fall die Erzeugung einer destruktiven Interferenz, einer Überlagerung von Wellen, die sich gegenseitig abschwächen oder sogar auslöschen. Bei Schallwellen bedeutet das also eine spürbare Reduzierung von Lärm, wenn auch nicht dessen vollständige Neutralisierung. In Schlafzimmern lässt sich das Verfahren eher nicht anwenden, wohl aber bei Kopfhörern, wo die Technologie seit Jahrzehnten genutzt wird. Beispielsweise von Piloten im Cockpit für den Flugfunk.

© Mathias Jäger/Hamburg Startups: Lukas Henkel und Marc von Elling stellten recalmim Airbus BizLab vor.

Vom Flugzeug zur Baumaschine

In der Luftfahrbranche machte auch das Startup recalm seine ersten Schritte, das Marc im Herbst 2016 gründete. Neben der Lärmerfahrung motivierte den Ingenieur zu diesem Schritt auch die erfolgreiche Projektarbeit zur Optimierung einer Fräsmaschine bei seinem damaligen Arbeitgeber. Diese Erfahrung wollte er in sein eigenes Unternehmen einbringen. recalm sicherte sich gleich zu Beginn seiner Geschichte einen Platz im Airbus BizLab, einem Accelerator, den der Flugzeugbauer eine Zeit lang durchführte. Aus rund 90 Bewerbungen schafften es nur sechs Startups ins Förderprogramm, ein erstes Zeichen, dass recalm einen Nerv getroffen hatte.

Die Geschäftsidee bestand zunächst darin, die Passagiersitze in Flugzeugen mit einem Antischallsystem auszustatten, um den von den Turbinen verursachten Lärm zu reduzieren. Das stieß in der Branche auch auf großes Interesse, an der praktischen Umsetzung haperte es aber. Zum einen waren die Entscheidungswege in den Unternehmen zu lang, zum anderen war der Aufwand für die Zertifizierung der Hardware zu groß für ein junges Startup ohne große finanzielle Reserven. Gefragt war also eine neue Zielgruppe und zum Glück fiel die Antwort nicht schwer. Ralf Ressel, Business Angel und zeitweise Teil des Führungsteams, hatte gute Kontakte in die Bau- und Landmaschinenbranche.

Dort ist Lärmschutz ein großes Thema. Beschäftigte auf dem Bau und in der Land- und Forstwirtschaft sind oft den ganzen Tag einem hohen Geräuschpegel ausgesetzt, was ernste gesundheitlich Schäden verursachen kann. Lärmschwerhörigkeit ist die häufigste anerkannte Berufskrankheit in Deutschland. Hier existierte also ein Markt, der zudem deutlich zugänglicher war als die Luftfahrtbranche. Auftritte auf Messen wie der bauma, der weltgrößten Baumaschinenmesse, in 2019, vertieften die Kontakte und sorgten für wertvolles Feedback. Im selben Jahr gewann recalm auch den Deutschen Arbeitsschutzpreis in der Kategorie Newcomer.

© recalm: ANCOR Headrest in action

So funktioniert recalm

Nicht nur die Bekanntheit und der Kundenkreis wurden mit der Zeit größer, auch das Produktangebot wurde umfangreicher und zu dem, was heute ANCOR heißt. Die Standardausführung nennt sich Headrest und wird entsprechend an die Kopfstütze eines Fahrzeugsitzes montiert. Zentrales Element ist nach wie vor die Lärmreduktion. Dafür nehmen flexible Mikrophone den Störschall auf, eine Software berechnet den erforderlichen Antischall, der dann von Lautsprechern ausgegeben wird. All das geschieht permanent innerhalb von Sekundenbruchteilen und sorgt für eine Reduzierung des Lautstärkepegels um annährend zehn Dezibel. Das klingt nicht nach viel, bewirkt aber tatsächlich bei der Lärmwahrnehmung eine Herabsenkung von bis zu 50 %.

Das Feedback aus der Branche führte zu einer weiteren Funktion, die mindestens ebenso gefragt ist wie die Lärmreduktion. Vor allem in der Forstwirtschaft ist eine reibungslose Kommunikation zwischen den dort Tätigen, die sich oft in größerer Entfernung voneinander befinden, ein wesentlicher Faktor. Üblicherweise geschieht das über Funkgeräte, die sich mit ANCOR an ein Funkmodul anschließen lassen, das über ein Fußpedal bedient werden kann. So bleibt die Hand frei, was in gefährlichen Situationen einen entscheidenden Sicherheitsvorteil bietet. Die Arbeit in der Forstwirtschaft gilt als besonders unfallträchtig, ähnliches trifft auch auf das Baugewerbe zu. Für notwendige Entspannung sorgt da Musik, die ebenfalls über das System abgespielt werden kann. Sie setzt selbstverständlich aus, sobald Anrufe über Funk oder Handy eingehen.

© KRONE: Marc von Elling (CEO recalm) und Anna-Lena Jerzembeck (Head of Strategy, KRONE)

ANCOR Custom bietet die gleichen Funktionen wie Headrest, lässt sich aber stärker auf kundenspezifische Bedürfnisse abstimmen. Beispielsweise verfügen nicht alle Fahrzeuge, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden, über Sitze mit Kopfstützen. Hier gilt es, Mikrophone und Lausprecher so zu platzieren, dass eine optimale Ruhezone bei normaler Kopfhaltung entstehen kann. Auf der anderen Seite strebt recalm eine Serienproduktion an, bei der ANCOR bereits ab Werk in die Fahrzeuge eingebaut ist. Einen großen Schritt in diese Richtung bedeutete die Anfang 2024 verkündete strategische Partnerschaft mit dem Landmaschinenhersteller KRONE. Damit verbunden war eine Finanzierung durch Silver Crown Capital, den Investmentarm von KRONE, und dem VC GREENEERING INVEST AG aus der Schweiz.

„Hamburg hat sich in mehrfacher Hinsicht als Standort bewährt. Gestartet bei der optimalen Unterstützung bei Förderanträgen und Infrastruktur durch den Startup Port, über das Finden des Gründerteams - danke an betahaus, Mindspace und Airbus BizLab! – und der Sicherung des ersten Kapitals von der IFB Hamburg bis hin zur optimalen Anbindung an unsere internationalen Kunden.“
Marc von Elling, Gründer und CEO von recalm
© recalm: Teamfoto von 2024

recalm produziert in Sachsen-Anhalt und plant die Zukunft in Hamburg

Zuvor hatte recalm nur kleinere Beträge eingesammelt, etwa durch ein EXIST-Gründungsstipendium und das InnoRampUp-Programm der IFB Innovationsstarter GmbH. Der größte Coup gelang dann Anfang 2025. Da konnte das Startup eine Serie A-Finanzierungsrunde in Höhe von 3 Millionen Euro abschließen, an der erneut Silver Crown Capital und die GREENEERING INVEST AG beteiligt waren. Ebenfalls investiert haben der IBG Risikokapitalfonds IV, gemanagt von bmp Ventures AG, SymbiaVC, der Investmentarm der Barbara Peifer Privatstiftung. Das Geld floss hauptsächlich in den Aufbau einer eigenen Produktionsstätte mit einer Hallenfläche von 800 Quadratmetern in Barleben bei Magdeburg.

Die steigende Nachfrage und die Listung bei renommierten Maschinenherstellern wie SENNEBOGEN, KAISER und Menzi Muck mache diesen Schritt erforderlich, hieß es dazu in einer Pressemitteilung. Im Juli ist dort die Produktion gestartet, während Entwicklung und Administration weiterhin in Hamburg liegen. Aber auch hier gab es gerade einen Tapetenwechsel, raus aus dem Startup Port in Harburg, wo recalm acht Jahre lang untergebracht war, rein in ein größeres Büro in Altona. Das Team, das zurzeit aus knapp über 20 Personen besteht, geht also in mehrfacher Hinsicht auf Wachstumskurs. Dazu gehören eine Internationalisierung über die Grenzen der DACH-Region hinaus und die Entwicklung einer Softwarelösung, die auch ohne Hardware vermarktbar wäre. Auch die Ursprungsidee, das System in Flugzeugen einzusetzen, ist noch nicht endgültig vom Tisch. Es gibt viel zu viel Lärm auf der Welt, da hat recalm noch eine Menge zu tun.


Autor

Startup City Hamburg

At Startup City Hamburg you can find Hamburg’s inspiring startup ecosystem gathered into one space.


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